WAS IST MIT MIRKO

Was ist mit Mirko

Jetzt guckst du! Ja, zuerst habt ihr euch nur getroffen, zufällig, im Supermarkt. Am Kühlregal, vor den abgepackten Gulaschsuppen. Er hat dich angelächelt. Süß und umwerfend, was hast du gesabbert. Doch es war nur ein Flirt. Kurz und sprachlos. Schade, den sehe ich wohl nie wieder, waren deine Worte. Und ich dachte, was ist mit Mirko.

Ja, wie das Leben so spielt. Zufälle gibt es nicht. Deine Chefin ist eine Hexe. Du schaust fürchterlich aus. Ein stressiger Tag liegt hinter dir. Draußen stürmt der Herbst. Ungemütlich. Da steht er plötzlich neben dir. Bei den Dosenbohnen. Dein Herz hat ausgesetzt und dein Kopf gleich mit. Du hast es gerade noch so geschafft, deine Nummer in sein Handy zu hauchen. Was ist schon dabei, nur ein Abenteuer, sagst du und ich frage mich, was ist mit Mirko.

Du schreibst, ihr habt geknutscht. Wie die Teenager. Kichersmiley. Mehr war aber nicht. Noch nicht. Drei Ausrufezeichen. Bleibt unter uns, ja? Na sicher, antworte ich, sind doch beste Freundinnen. Du schickst Lachsmileys, doch ich lächle nicht zurück. Ich tippe, was ist mit Mirko. Da bist du offline, weit weg auf deiner Wolke.

Ob ich dir zuhöre? Na, klar. Immer. Spaziergänge am Elbufer, händchenhaltend, die Oktobersonne im Gesicht. Kuscheln auf seinem Sofa, später in die Oper – seit wann interessiert du dich für Kultur? Habt großartigen Sex, sogar in dem Bett, das du teilst. Mit Mirko. Der ist doch in Stockholm, auf Dienstreise. Ach so. Na dann. Hauptsache, du bist glücklich.

Samstagabend. Ich bereite in eurer Küche das Abendessen vor und du trinkst Rotwein. Es gibt Rouladen, dazu Klöße und Apfelrotkohl. Es ist Mirkos Lieblingsessen. Ich weiß so etwas, denke ich, während du mir von deiner letzten Nacht zwischen den Laken erzählst und wie du beinahe vergessen hättest, die Bettwäsche zu wechseln. Ich frage dich, was ist mit Mirko.

Du prustest in dein Glas, was soll mit dem sein? Ich sage, er hat das nicht verdient. Du lachst mich aus, woher will ich denn bitteschön wissen, was Mirko verdient hat oder nicht. Mirko ist ein langweiliger Nichtsnutz. Völlig im Jogging-Wahn. Mal abgesehen von seinem Fimmel für Panini-Bildchen. Was ist daran verkehrt? Aber ja genau, ich vergaß, was weiß ich denn schon? Ich bin da, um dir zu zuhören, brav und artig an deiner Seite – wie immer. Für Mirko zerteile ich die Äpfel und schneide sie in kleine Würfel.

Was sagt du da? Ich könnte ihn haben, er sei frei. Er liebt doch nur dich. Ich bin die, die er nicht wollte. Du bist die Eine für ihn, bis dass der Tod euch scheidet. Doch du hast keine Ahnung.

Nun läufst du durch deine Küche, die die meine hätte sein sollen, stellst dein Glas so ab, dass es überschwappt und den Boden rötlich besudelt, den ich reinigen werde. Redest vor dich hin, dass du es nicht länger für dich behalten kannst. Vorbei mit der Heimlichtuerei. Du wirst es ihm erzählen. Heute Abend. Da höre ich sein Auto, es rollt die Kiesauffahrt hinauf. Eines meiner absoluten Lieblingsgeräusche. Das willst du mir nehmen? Das wirst du mir nicht nehmen. Nicht auch noch das. Nicht nach all den Jahren.

Ja, und jetzt guckst du! Liegst zu meinen Füßen, auf deinen glanzvollen Fliesen, dumm und ahnungslos wie zuvor, aber endlich still. So wie auch Mirko, der im Türrahmen steht.
Ich lege das Messer zur Seite und wische mir die Hände an einem Geschirrtuch ab. Oh, und ja, ich würde es wieder tun. Jederzeit. Niemand trennt mich und Mirko. Wirklich niemand.

Von Herzen. Deine beste Freundin.

 

WAS IST MIT MIRKO


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HIN UND ZURÜCK (ZU DIR)


Sie kennen sich über gemeinsame Freunde, gehen spazieren, in der Sonne, es riecht nach Frühling. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. Beide mögen sie alte Filme, Städtetrips, salziges Popcorn, aber…


HIN UND ZURÜCK (ZU DIR)

Hin und zurück (zu dir)

Sie kennen sich über gemeinsame Freunde, gehen spazieren, in der Sonne, es riecht nach Frühling. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. Beide mögen sie alte Filme, Städtetrips, salziges Popcorn, aber keinen Karneval. Was sie ihm nicht sagt, dass er sie an jemanden erinnert. Sie weiß, Erinnerungen kommen und gehen, mit Gefühlen ist es nicht anders. Wenn die Angst kommt, schubst sie sie weg. Auch die Erinnerungen. Liebe ist stärker, denkt sie.

Sie sehen sich beim Bouldern, bei gutem Wein und Jazz. Die Angst, sie ist leiser geworden. Er nimmt sie in die Arme. Sie küssen sich, aber es kribbelt nicht.

Er liegt neben ihr. Sie kann nicht schlafen. In ihr ist es zu still. Wo ist das Tohuwabohu? Das Gefühlsdonnerwetter, der Blitz, der einen unvorbereitet trifft, von Kopf bis Fuß durchschüttelt und einen verändert zurücklässt? Der Blitz, der Watte in den Kopf packt und das Herz leicht macht. So wie damals. Vor Jahren.

Er fragt, wann sie sich wiedersehen. Sie sagt, sie weiß es noch nicht, diese Woche ist viel los. Vor allem sind es Erinnerungen an den einen Bestimmten, die sie nicht mehr loslassen. Sie schiebt sie beiseite. Doch es dauert nicht lange, bis die inneren Bilder zu stark werden, sie geht gedanklich zurück und zweifelt. Was ist, wenn er der Eine ist? Längst das, was sie sucht, aber bei all den anderen nicht findet?

Sie schaut sich das einzige Foto an, das es von ihnen beiden gibt. Eine andere Zeit. Der Abend, an dem sie sich das erste Mal trafen, alles seinen Anfang nahm und sie es festhalten wollten für die Ewigkeit, als ob es bedeutend für alles Kommende in ihrer beider Leben wäre. Sie scrollt durch die gemeinsamen Chats. Sie kommen ihr wie gestern geschrieben vor, dabei sind sie uralt. Das Herz wird ihr schwer. Es gibt kein Zurück. Er ist über sie hinweg, das waren seine letzten Worte. Ihre, dass sie sich für ihn freue. Was sie meinte, bleib weg, such dir eine andere, mit mir stimmt was nicht.

Sie schreibt, sie freut sich, ihn morgen zu sehen. In der Hoffnung, dass das Kribbeln sich doch noch einstellt. Sie muss es sich nur ganz fest vornehmen. Er antwortet, dass er sich freut.

Er küsst sie innig, sie ist die Gleiche. Die Angst ist nicht da, darauf sollte sie hören. Er spricht über gemeinsames Verreisen, nach Rom soll es gehen. Die einzige Reise, die sie gerade machen möchte, ist in einen anderen Stadtteil. Hin zu dem einen, der ihr mehr als nur fehlt. So sehr, sie möchte ihm auch von der Angst erzählen.
Doch sie schämt sich, weil es nicht fair gegenüber Rom und einer Zukunft ohne Angst ist. Sie sagt, sie denkt darüber nach.

Tagelang sitzt sie zu Hause, läuft durch die Wohnung, das Handy in der Hand. Hin zu dem einen, zurück zu dem anderen. Warum war die Angst damals so groß? Wieso ist sie heute so klein? Weil auch die Liebe groß war. Sie wählt. Es kribbelt.

WAS IST MIT MIRKO


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TODESMUTIG

Todesmutig

„Das Leben möchte sich von mir scheiden lassen. Es findet, dass ich zu destruktiv bin“, sagte der Tod und rümpfte die Nase.
„Nein“, schrie das Schicksal auf.
„Ich weiß, ich weiß. Kaum zu glauben, was? Es heißt ja auch nicht, bis dass das Leben euch scheidet.“
„Was ist mit der Liebe? Kann die nicht helfen?“
„Die ist sehr beschäftigt. Bei all dem Hass auf der Welt, kein Wunder.“
Das Schicksal lief aufgeregt durch den Raum. „Wie könntest du dem Leben nur zeigen, dass dir viel an ihm liegt?“
Der Tod zuckte mit den Schultern. Das Schicksal strahlte. „Du könntest jemanden verschonen.“
Das Lachen des Todes hallte bis in die entlegensten Winkel des Universums.
„Liebes Schicksal, so gerne ich auch mit dir zusammenarbeite, und wir sind ein gutes Team, verzichte ich auf deinen Ratschlag. Überall, wo du auch wandelst, bringst du Unordnung und Chaos.“
Das Schicksal brummte: „Du bist aber gemein. Ich vollbringe auch Gutes. Es wird nur schnell übersehen und mit dem Glück verwechselt.“
„Glück hin oder her. Schwerer Unfall auf der Autobahn. Ganz nach meinem Geschmack. Ich muss los.“
In Blitzgeschwindigkeit eilte das Schicksal hinterher, um ihm zuvorzukommen. Doch es kam zu spät.

Der Tod weilte am Rande der Autobahn und rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Das Leben stürmte auf ihn zu, er sah es nicht kommen, bis es ihn boxte.
„Aua. Was habe ich jetzt schon wieder getan?“
„Am liebsten würde ich dich umbringen. Sie sollte eines Tages den Friedensnobelpreis erhalten.“
„Wen meinst du?“ Der Tod hielt sich immer noch die Seite.
„Die junge Frau, die bei dem Unfall ihr Leben verloren hat. Bist du noch bei Trost?“
„Woher sollte ich das denn jetzt schon wieder wissen? Du redest ja nicht mehr mit mir. Außerdem ist das die Aufgabe des Schicksals.“
Das Leben schüttelte sich.
„Um keine Ausrede verlegen. Du bist herzlos. Wann hast du das letzte Mal jemanden verschont?“
Der Tod schwieg.
„Siehst du! Wir beide haben uns nichts mehr zu sagen.“
Der Tod war traurig. Das Leben ging weiter.

Aaron saß auf dem Sofa und wartete auf den Tod. Neben ihm lag eine leere Tablettenpackung. Als der Tod endlich kam, machte er gleich wieder kehrt.
„Fehlalarm. Dauert noch, bis die Wirkung einsetzt. Ich bin in einer Stunde zurück.“
„Nein, jetzt! Seit meine Verlobte mich verlassen hat, hat das Leben keinen Sinn mehr.“
Der Tod schaute Aaron tief in die Augen. „Was hast du da über das Leben gesagt?“
„Das Leben ist scheiße. Es kann mich mal.“ Aaron verschränkte die Arme.
„Du beleidigst das Leben? Die Liebe meines Lebens? Dafür wirst du büßen.“ Der Tod hielt inne. „Zur Strafe werde ich dich nicht sterben lassen.“
„Wie das?“
„Steh auf und spuck sofort die Tabletten wieder aus!“
„Nein, das mache ich nicht.“
„Mach den Mund auf! Aber dalli!“
Aaron presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch eine dünne Linie waren.
„Jetzt ist aber Sense!“
Der Tod packte Aaron am Hemdkragen, zerrte ihn zu Boden, setzte sich rittlings auf ihn und hielt ihm mit einer Hand die Nase zu. Der riss den Mund auf, schnappte nach Luft, schlug mit den Fäusten auf den Tod ein und näselte: „Lass mich los! Lass mich los!“
Doch seine schwarze Seele kannte kein Erbarmen. Er drückte Aaron zu Boden, steckte ihm einen Finger in den Hals und die Tabletten fanden ihren Weg auf die Welt zurück. Als er davonzog, nahm er alle Pillen mit. Selbst die Brausetabletten, die nach Orange schmecken. Und sämtliche Seile, wenn er welche gefunden hätte. Sowie alle Messer. Auch die klimaunfreundlichen aus Plastik.

Auf der Suche nach dem Leben pfiff der Tod vergnügt vor sich hin. Wie es der Zufall wollte, traf er dabei auf das Unglück. Er prahlte mit seiner Tat, ein Menschenleben bewahrt zu haben. Nun dürfte das Leben ihm ja nicht mehr böse sein. Da erzählte das Unglück, dass der Tod sich zu früh gefreut habe. Aaron hätte sich ein Jagdgewehr besorgt.

Durch ein offenstehendes Wohnzimmerfenster plumpste der Tod in die Wohnung von Aaron, der gerade das Gewehr entsicherte. Er richtete sich auf.
„Woher hast du die Waffe? Das ist kein Spielzeug.“
„Das hoffe ich doch.“ Aaron legte das Gewehr an und zielte auf den Tod. „Hände hoch!“
Der ging auf Aaron zu.
„Bleib stehen! Ich will deine Hände sehen!“
Schnell und anmutig – er glich einem Panther, zumindest würde er das dem Leben später so erzählen – sprang der Tod auf Aaron zu, griff nach der Büchse und zog an ihr. Doch Aaron ließ nicht los. Es ging zwischen ihnen hin und her, gerade noch linksrechts, im nächsten Moment südlich diagonal über den Tisch. Mal war einer von ihnen unten, mal der andere oben, bis es dem Tod zu bunt wurde. Mit allen metaweltlichen Kräften riss er an dem Gewehr. Doch kaum hielt er es in den Händen, verlor er das Gleichgewicht und die Waffe. Sie flog in hohem Bogen durch das Fenster nach draußen auf die Straße mitten in eine Fußgängerzone. Ein Schuss löste sich. Ein Schrei war zu hören. Der Tod und Aaron erstarrten und sahen sich mit großen Augen an, bevor sie zum Fenster rannten.

Eine junge Frau lag in einer roten Lache auf dem Boden. Ihre Einkäufe waren um sie herum verstreut. Ein Passant mit einem dicklichen Pudel rief nach einem Krankenwagen, der Polizei und einem Verbot von Waffen.
„Ganz toll gemacht! Nun hast du doch jemanden umgebracht.“ Aaron klopfte dem Tod auf die Schulter und schüttelte den Kopf.
„Das wird mir das Leben nie verzeihen. Ich hätte den Rat vom Schicksal annehmen sollen. Das habe ich nun davon.“ Der Tod schlug die Hände vors Gesicht und wimmerte, da lächelte Aaron.
„Schau doch! Der Frau geht es gut. Der Schuss hat sie verfehlt. Sie ist nur vor Schreck hingefallen. In ihrer Einkaufstüte war anscheinend Johannisbeersaft. Was für ein Glück im Unglück.“ Er rannte aus der Wohnung, um der Frau zu helfen, ihre Einkäufe einzusammeln. Die Hoffnung triumphierte.

Langsam nahm der Tod die Hände herunter. Und wer winkte ihm von der gegenüberliegenden Straßenseite zu? Das Schicksal.

 

WAS IST MIT MIRKO


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RAUSCHGOLDENGEL (IMMER LEICHT EINEN SITZEN)

Rauschgoldengel

Alle waren sie bei ihren Familien und Freunden oder auf dem Weihnachtsmarkt in der Altstadt. Er lief den Gang entlang und schaute auf sein Diensthandy. Keine Anrufe, keine neuen Nachrichten, keine Mails. Es war still geworden. Noch ein Tag bis Heiligabend. Am Ende des Ganges lag sein Büro. Er stand vor den deckenhohen Fenstern und starrte in die Dunkelheit. In der Ferne erstrahlte ein Weihnachtsbaum. Schneeflocken fielen vom Himmel. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Sein Blick fiel auf Lauras Platz. Er war verlassen.

„Die Kampagne für das neue Produkt startet Anfang Januar. Wie geplant, trotz verspäteter Kundenfreigabe.“
Timo stand im Türrahmen.
„Danke dir für deinen Einsatz. Sehr gut!“
„Klar, Ehrensache. Frohe Festtage, Ben!“
Ben nickte. Kurz danach hörte er auch schon die Aufzugtüren, die sich hinter Timo schlossen. Er schaute in seinen Posteingang. Eine neue Nachricht. Weihnachtsgrüße von einem Werbeartikelhersteller. Er löschte die Mail und nahm sich die Reisekostenabrechnung vor.

Ein Poltern riss ihn aus seinen Gedanken. Es folgte ein Rumpeln. Er stand auf und schaute den Gang entlang. Die Geräusche kamen aus der Küche. Ein Engel mit goldenen Flügeln und kleinen Füßchen hing mit dem Kopf im Kühlschrank und brabbelte vor sich hin.
„Was, zur Hölle, machst du da?“, fragte Ben.
„Ich suche den Pitch-Sekt“, hallte es aus dem Innenraum. Der Engel kroch hervor und zwinkerte ihm zu. „Das gute Zeug.“
„Wie bitte?“
„Du bist doch der Chef hier, wieso weißt du so etwas nicht?“
„Raus hier. Sofort!“
Der Engel schüttelte sich.
„Dieses Jahr bin ich leider dran. Ich wurde geschickt, um dich in Weihnachtsstimmung zu bringen. Also, wo ist die Pitch-Brause?“
Ben ließ sich auf einen Stuhl fallen und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Auf dem Tisch lag ein angebrochener Christstollen.
„Hör zu! Ich habe keinen Bock auf euren Engelbesinnungsquatsch. Vor zwei Jahren musste ich meine Kindheit aufarbeiten. Letztes Mal gab es eine Familienaufstellung mit Bürostühlen. Was kommt dieses Jahr? Hypnose?“
Der Goldengel trat von einem Fuß auf den anderen und faltete seine Händchen. „Ich bin wirklich sehr durstig.“
Ben schnaufte.
„Im Kühlschrank unten links. Gläser findest du rechts oben über der Spüle.“
„Sehr cool. Übrigens, ich bin Tipsy.“

Ben stand auf und eilte in sein Büro zurück. Tipsy – die Sektflasche in der einen Hand und das volle Glas in der anderen – trippelte hinterher.
„Was machst du noch hier?“, fragte Ben und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Hat mich gefreut und auf Wiedersehen.“
Tipsy seufzte.
„So einfach ist das nicht. Bis Mitternacht hast du mich an der Backe. Außer, ich schaffe es, dich bis dahin zu bekehren.“
„Nichts leichter als das. Frohe Weihnachten!“
Tipsy rollte mit den Augen. „Du Anfänger. Es muss von Herzen kommen. Ist dem so, leuchten meine Flügel.“
Ben runzelte die Stirn.
„Schau mich nicht so an. Goldengelprotokoll. Ich habe die Regeln nicht gemacht,“ sagte Tipsy und hielt Ben die Flasche Sekt hin.
Der winkte ab.
„Du solltest weniger von dem Zeug trinken!“
„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe keine Leber. Das ist das Gute, wenn man über allem schwebt. Es prickelt einfach ab.“
Ben atmete tief durch. „Bringen wir es hinter uns. Hast du den Fragebogen dabei?“
„Eins a Reminder. Ihr Werbemenschen seid immer so auf Zack.“
Tipsy stellte Flasche und Glas auf den Boden, zog eine goldene Schreibfeder sowie ein beige schimmerndes Blatt Papier hervor. Er räusperte sich.
„Würden Sie Weihnachten als das Fest der Liebe weiterempfehlen?“
„Nein.“
„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr sind Sie in Weihnachtsstimmung?“
„Null.“
„Warum sehen Sie das so?
„Das geht dich nichts an.“
Tipsy krickelte etwas auf das Papier. „Ist notiert. Super, dass du Weihnachten scheiße findest.“ Er schlug mit den Flügeln. „Schaffe ich es nämlich nicht, dich für das Fest der Liebe zu erwärmen, muss ich nächstes Jahr nicht wieder ran. Also? Kein Stress, nur Rausch.“
Der Goldengel strahlte.

Ben wandte sich wieder seiner Reisekostenabrechnung zu, während Tipsy durch den Raum hüpfte und an seinem Sekt schlürfte. Abrupt blieb er stehen und zeigte auf den leeren Schreibtisch.
„Wer sitzt da?“
Ben atmete tief ein.
„Niemand. Du kannst dich dahin setzen, solange du mich in Ruhe lässt.“
Tipsy schmiss sich auf den Bürostuhl und rutschte ein paar Mal mit seinem Popo hin und her.
„Der Stuhl ist aber bequem. Wer sitzt hier?“
„Laura saß da.“
„Wo ist Laura?“ Tipsy riss die Augen auf. „Oh bitte, sag jetzt nicht, dass sie tot ist, sonst kann ich hier nicht mehr sitzen.“
Ben sah ihn an.
„Sie hat die Agentur vor ein paar Wochen verlassen, um sich selbstständig zu machen. Ich würde gerne weiterarbeiten.“
Tipsy nickte und wippte mit seinen Füßchen unter dem Tisch.
„Wie findest du das?“
„Was?“, fragte Ben genervt.
„Na, dass sie weg ist?“
„Ich freue mich für sie. Sie ist top in ihrem Job. Wir waren ein super Team.“
„Wieso seid ihr dann nicht super zusammen?“
Ben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Dazu gehören immer zwei. Sie hat kein Interesse.“
„Woher willst du das wissen?“
„Es schien ihr egal zu sein, dass sich unsere Wege trennen. Ich habe auch nichts mehr von ihr gehört.“ Ben hielt inne. „Außerdem gibt es eine andere.“
Tipsy füllte sein Glas auf. „Wenn ich Laura wäre, würde ich mich auch nicht melden. Sie ist bestimmt tiefsttraurig, dass du eine andere hast.“
„Woher willst du das wissen? Sie hätte ja …“
Tipsys Flügel vibrierten und er zeigte mit dem Daumen nach unten. Er nahm die Feder, schrieb „Team Laura“ auf die Rückseite des Blattes und hielt es hoch.
Ben schnaubte. „Ich habe ihr oft gezeigt, dass ich sie mehr als mag.“
Tipsy legte das Blatt zur Seite und griff nach seinem Glas.
„Du hättest ihr das auch mal sagen sollen. Dann würdest du jetzt nicht alleine in deinem Büro versauern.“
„Ich werde … egal, Thema beendet.“ Ben stand auf. „Ich bin mal kurz ums Eck. Fass ja nichts an!“
Tipsy hob die Arme über den Kopf, um seine Unschuld zu beteuern. Der Sekt schwappte über, klatschte gegen die Wand und lief an ihr hinunter. Es zischte. Funken schlugen. „Komisch, dass er lieber arbeitet, als bei seiner neuen Freundin zu sein“, murmelte er, lehnte sich nach vorne und malte Herzchen neben Lauras Namen. Hinter ihm zogen Rauchschwaden auf.

Kurz danach stach ihn etwas in seinen Goldengelpopo. Er riss die Augen auf und sprang vom Stuhl. Eine Flamme hatte ihn gepickst. FEUER! Er nahm die Flasche Sekt, zögerte, aber es half nichts. Er kippte das gute Zeug über die Glut, die munter weiter schwelte. Nun versuchte er es mit seinen Füßchen. „Aua, aua … ist das heiß.“ Ben kam zurück und riss die Augen auf. „Was zur Hölle … verdammt, komm da weg! Du verbrennst dich noch!“ Er drückte dem Engel sein Handy in die Hand. „Ruf die Feuerwehr! Ich hole einen Feuerlöscher.“ Der Rauch verdichtete sich. Die Sirene des Feuermelders heulte auf. Tipsys Heiligenschein zuckte. Seine Flügel flatterten und wirbelten den Fragebogen auf, der zu Boden segelte – vor seine Füße. Team Laura. Seine Fingerchen fegten über das Display. Ihre Mailbox sprang an, während die Flammen sich ihren Weg durch das Büro bahnten. Ben warf den Feuerlöscher zur Seite, packte den Goldengel und zog ihn aus dem Büro.

Die Feuerwehr rollte die letzten Schläuche ein. Vereinzelte Rauchwölkchen zogen durch die geöffneten Fenster des Gebäudes nach draußen. Ben saß auf einer Mauer. Um seine Schultern lag eine Decke. Tipsy stand mit angesengten Flügeln neben ihm und schaute zu Boden.
„Setz dich!“
Der Goldengel schüttelte den Kopf. „Besser nicht. Brandblase am Popo.“
„Deine Flügel?“
„Die werden wieder. Ist nicht das erste Mal.“
Ben schmunzelte und legte die Decke zur Seite.
„Gleich ist Mitternacht. Dann hast du es geschafft.“
Tipsy hüpfte wild. „Sie ist wieder da!“
Ben blickte auf und sah Laura, die auf ihn zugelaufen kam. Der Engel grinste.
„Ich habe ihr aufs Band gequatscht, dass du im Büro bist und brennst.“
„Was hast du?“
„Jetzt sei nicht so judgy! Sie ist gekommen, das zählt.“
Ben lachte. „Du bist schon ein besonderer Goldengel.“
„Jetzt vergeig das aber nicht wieder. Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern.“
Aber da war Ben schon längst weg.

Die Kirchturmglocken schlugen in einer Sekunde zwölf und Tipsys Flügel leuchteten. Klar und weit. Erhellten die Nacht, in der Ben und Laura sich das erste Mal küssten.

WAS IST MIT MIRKO


Jetzt guckst du! Ja, zuerst habt ihr euch nur getroffen, zufällig, im Supermarkt. Am Kühlregal, vor den abgepackten Gulaschsuppen. Er hat dich angelächelt. Süß und umwerfend, was hast du gesabbert.…

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Sie kennen sich über gemeinsame Freunde, gehen spazieren, in der Sonne, es riecht nach Frühling. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. Beide mögen sie alte Filme, Städtetrips, salziges Popcorn, aber…


FRAU PLANK

Frau Plank

Drei Anrufe in Abwesenheit. Er warf das Handy auf den Beifahrersitz. Bestimmt wieder so ein Telefonanbieter, der einem etwas unterschieben wollte. Oder ein Versicherungsheini. Für ihn waren sie alle gleich.
Egon zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster herunter. Trotz herrlicher Aprilsonne strömte kalte Luft in den Innenraum des Lieferwagens. Seine mit Arthritis verseuchten Gelenke mochten es zwar eher warm, aber Zigarettenasche im Auto konnte er nicht ausstehen. Auch wenn der Wagen nur geliehen war.

Er würde fünfhunderttausend bei der Sache machen. Und das Virus? Spielte ihm in die Karten. Durch die verordnete Kontaktsperre waren kaum Menschen und damit weniger Zeugen auf der Straße. Es würde dauern, bis jemand bemerken würde, dass die Kleine verschwunden war. So musste er sich auch nicht stressen, um das Lösegeld einzufordern.
Er schaute in den Seitenspiegel und zog genüsslich an der Zigarette.
„Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“
Er musste husten und schwor sich, eines Tages aufzuhören.

Egon fuhr rückwärts in die mit Efeu und Gestrüpp überwucherte Garage. Sobald er die halbe Million in seinen Händen hielt, wäre die von seiner Tante geerbte Bruchbude nur noch Schall und Rauch. Er würde sich Richtung Hawaii absetzen. Oder doch Acapulco?
Er stellte den Motor ab. Da bimmelte das Handy erneut.
„Meine Fresse, was ist denn?“
„Meier vom Gesundheitsamt. Herr Weinrich, sie standen mit einer Person in Kontakt, die mit Covid-19 infiziert ist. Sie stehen ab sofort für vierzehn Tage unter Quarantäne. Es kommt jemand vorbei, um einen Abstrich zu nehmen.“
„Nee, mir geht es blendend. Muss keiner kommen.“
Egon legte auf.

Durch die Verbindungstür schleppte er den jungen Körper ins Haus. Er war unsicher in Bezug auf die Dosierung des Chloroforms gewesen. Das Mädchen war doch dünner als auf den Fotos. Sie würde wohl noch eine Weile schlafen.
Im Keller zog er an einer Kette, um das Licht einzuschalten, und legte sie auf Baumwolldecken ab, die nach 4711 stanken. Seine Tante hatte in dem Zeug gebadet. Er prüfte, ob die Augenbinde sowie die Hand- und Fußfesseln festsaßen. Er wollte nicht böse überrascht werden.  

Auf der Suche nach einem Feuerzeug lief Egon durchs Wohnzimmer, als es an der Haustür klingelte. Er duckte sich und robbte hinter das Sofa. Es schellte erneut. Da hörte er Frau Plank von gegenüber schnattern: „Der Herr Weinrich ist eben nach Hause gekommen!“
Er ballte die Hände zu Fäusten. Diese blöde Kuh! Gut, dass die Kleine unten im Keller noch eine Weile ausgeknockt war.

Egon öffnete zähneknirschend die Tür. Ein Mann in Weiß ragte vor ihm auf. Er versicherte ihm, dass er kerngesund sei, doch der Mann beharrte auf einen Abstrich: „Herr Weinrich, je länger Sie es hinauszögern, desto länger wird es dauern. Ganz einfach.“ Egon öffnete den Mund, und gerade als der Mann das Haus verlassen wollte, hustete das Mädchen im Keller.
„Wohnt noch jemand hier?“
„Nee, wohne alleine.“
„Sind Sie sicher? Da hustet doch jemand.“
Egon sprach lauter, um das Husten zu übertönen: „Meine Tante ist vor zwei Jahren verstorben. Bestimmt Frau Plank. Wenn sich jemand das Virus holt, dann sie. Die quasselt den ganzen Tag.“
„Herr Weinrich, nehmen Sie das ernst. Wir kontrollieren unangemeldet, ob Sie sich an die Auflagen halten.“
„Ich werde hier sein.“
Egon lächelte, als ob ihm die Sonne aus dem Arsch scheinen würde, und schloss die Tür hinter sich. Keine zwei Sekunden später schrie das Mädchen um Hilfe.

„Lass mich los, du Arschloch!“
Sie kreischte und spuckte. Wusste sie von dem tödlichen Virus, das gerade umging?
Es dauerte eine Weile, bis er ihr einen Knebel angelegt hatte. In Schweiß gebadet stand er vor ihr. Die Jugend von heute. Er brauchte Nikotin.

Am späten Nachmittag brachte er dem Mädchen Wasser und ein Käsebrot. Er nahm ihr den Knebel ab, mit dem Hinweis, sollte sie schreien, würde er ihn sofort wieder anlegen. Sie nickte und hustete. Er ging ein paar Schritte zurück. Ob sie sonst was bräuchte? Ja, Tampons.

Der Lieferwagen rollte aus der Garage. Egon wollte zuerst zum Supermarkt fahren und anschließend zu der Telefonzelle am Stadtrand, um das Lösegeld einzufordern. Er traute den heutigen sogenannten Smartphones nicht. Kurz vor Bordsteinkantenende musste er scharf bremsen, sonst wäre er mit Frau Planks fülligem Körper zusammengestoßen. Die Hände in die Hüften gestemmt stand sie vor ihm: „Egon Weinrich, wo wollen Sie hin?“
Er kurbelte das Fenster runter: „Einkaufen.“
„Das lassen Sie mal schön bleiben. Das sehe ich gar nicht gerne. Ab ins Haus mit Ihnen. Geben Sie mir die Liste, ich mache das für Sie.“
„Ich bin gesund. Will nur kurz…“
„Soll ich das Amt verständigen?“
Er hielt den Zettel aus dem Fenster, den sie sich schnappte und begutachtete.
„Wofür brauchen Sie denn Tampons?“
„Ähm … für sowas wie Nasenbluten?“
Frau Plank lachte auf.
„Dachte schon, Sie hätten ein Liebchen und mir nichts davon erzählt. In welcher Größe hätten Sie denn die gerne? Mini, normal, super, superplus?“
„Es gibt unterschiedliche Größen?“, murmelte er Richtung Beifahrersitz, während Frau Plank seine Nase eingehend musterte: „Ihre Nase ist normal.“

Im Haus ging er auf und ab. Rauchte eine nach der anderen. Schüttelte sich vor Husten. Und Frau Plank? Erzählte Trude am Telefon, dass Egon Weinrich eine Geliebte hatte, die er vor ihr versteckte.

Kurz vor den Zwanzig-Uhr-Nachrichten stellte Frau Plank einen Korb vor die Haustüre, klingelte und ging. Sie hatte noch selbstgemachte Marmelade dazu gepackt und die gute Leberwurst vom Metzger. Doch er hörte sie nicht, weil er saugte. Ihm war Zigarettenasche runtergefallen.

Später lugte Egon immer mal wieder durch die Gardinen, ob bei Frau Plank die Lichter ausgingen, damit er endlich zur Telefonzelle fahren konnte. Er wurde müde. Fühlte sich mit einem Male schlapp und legte sich aufs Sofa. Er fror. Er zog die Decke bis zum Kinn. Gegen seinen Husten holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er schwitzte und stellte das Wohnzimmerfenster auf Kipp. Ein Klotz, schwer wie ein Ziegelstein, lag auf seiner Brust. Das war der Moment, in dem Egon Weinrich aufhörte zu rauchen.

Am nächsten Morgen stieg Frau Plank auf ihr Fahrrad und bemerkte, dass der Korb noch immer vor der Haustüre stand. Sie schüttelte den Kopf, dieser unverbesserliche Suffkopp. Der Vorgarten war auch ein reines Chaos. Aber das würde sie später klären. Jetzt musste sie los. Sie wollte früh beim Bauern sein, um die besten Eier zu ergattern. Aber kurz vor Mittag, der Linseneintopf köchelte auf dem Herd vor sich hin, ließ es ihr keine Ruhe mehr.

Egon Weinrich reagierte nicht auf ihr Klingeln, Klopfen und Rufen. Sie stapfte ums Haus. Durch das gekippte Seitenfenster spähte sie ins Wohnzimmer. Er lag neben dem Sofa. Sie hämmerte gegen die Scheibe, brüllte seinen Namen. Einige Nachbarn kamen aus ihren Häusern. Aber er rührte sich nicht. Sie rief den Notarzt.

Ein Rettungssanitäter der Feuerwehr wandte sich an Frau Plank: „Er murmelte ein paarmal die Worte Keller. Wohnt noch jemand mit im Haus?“
„Nein, seine Tante ist vor etwa zwei Jahren verstorben. Aber er hat eine heimliche Geliebte. Da kann er mir erzählen, was er will.“
„Wie auch immer. Im Haus war niemand mehr. Wir bringen ihn ins Krankenhaus.“
Frau Plank schloss die Haustüre ab.

Am frühen Abend bemerkte Frau Plank – sie kam gerade vom Friedhof – dass das Licht im Keller von Egon Weinrich brannte. Sie griff in ihre Jackentasche und holte den Schlüssel hervor. Sollte sie? Wenn sie Trude nur erzählen könnte, wer die Person war, die mit Herrn Weinrich verkehrte. Nein, auch sie hatte ihre Grenzen. Was aber, wenn er nur vergessen hatte, das Licht auszuschalten? Die Blumen bräuchten bestimmt auch Wasser und wenn sie dann per Zufall …

Frau Plank zog ihre Handschuhe aus und knipste das Licht im Flur an. Der Holzboden knarrte unter ihren Schritten. Es roch süßlich, nach abgestandenem Bier. Im Wohnzimmer faltete sie die Decke zusammen, klopfte die Kissen zurecht, nahm die leere Bierflasche mit in die Küche. Auf der Theke sammelte sich das dreckige Geschirr. Sie schüttelte den Kopf und spülte ab. Oben im Schlafzimmer machte sie das Bett. Der Ordnung halber. Eines war klar, sie würde sich noch ein paar Tage gedulden müssen, bis sie endlich wusste, wer die Dame war.

Sie trug den Müllsack raus, steckte den Schlüssel ins Schloß und zog an der Haustüre. Sie musste schnell sein, denn sie wollte die Nachrichten nicht verpassen. Im Fernseh hatten sie eine neue Corona-Verordnung angekündigt. Mit einer Hand schlug sie sich gegen die Stirn.
„Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen.“
Sie eilte zur Kellertür, nahm eine Stufe nach der anderen, roch 4711 (wie fürchterlich!), suchte nach dem Lichtschalter, fasste nach der Kette und zog an ihr, ließ sie aber nicht los.
„Egon Weinrich, du Schweinehund! So wahr mir Gott helfe, du bist ein Teufel.“
Frau Plank befreite das junge Mädchen von den Seilen und Schnüren, während sie es kaum erwarten konnte, Trude anzurufen, um ihr alles haarklein zu erzählen.

EPILOG

„Für dich waren also die Tampons?“
„Ja, aber das habe ich nur gesagt, um ihn zu ärgern. Und ich habe gehofft, dass es jemandem komisch vorkommt, wenn er sie besorgt.“
„Oh, Liebes! Ich wusste direkt, dass da was nicht stimmt.“

 

WAS IST MIT MIRKO


Jetzt guckst du! Ja, zuerst habt ihr euch nur getroffen, zufällig, im Supermarkt. Am Kühlregal, vor den abgepackten Gulaschsuppen. Er hat dich angelächelt. Süß und umwerfend, was hast du gesabbert.…

HIN UND ZURÜCK (ZU DIR)


Sie kennen sich über gemeinsame Freunde, gehen spazieren, in der Sonne, es riecht nach Frühling. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. Beide mögen sie alte Filme, Städtetrips, salziges Popcorn, aber…


GROSSGEISTIG

Großgeistig

Maribel schlüpfte unter die Bettdecke. Traurig, dass ihr Lieblingskuscheltier nicht bei ihr war. Seit heute morgen war der Drache spurlos verschwunden.
„Morgen suchen wir weiter. Jetzt wird aber erst einmal geschlafen,“ sagte ihre Mutter und setzte sich auf die Bettkante.
„Gestern Abend war Essie noch da.“
„Er wird bestimmt nicht weit sein. Wir finden ihn.“
„Mama, hörst du nachts auch die Geräusche?“
„Ja, die höre ich auch. Das lässt sich bei so einem alten Haus nicht vermeiden. Wir wohnen ja auch erst ein paar Tage hier. Es braucht wohl ein bisschen, bis wir uns an die neue Umgebung gewöhnt haben.“
Maribel spitzte ihr Mündchen. Unschlüssig, ob sie sich jemals an das Knarren, Knarzen und Rumpeln gewöhnen würde, aber Mama hatte bestimmt recht. So ließ sie sich ins Kissen fallen, drehte den Kopf zur Seite, zeigte mit dem Finger in die eine dunkle Ecke des Zimmers und flüsterte: „Mama, dort steht eine Fee.“
Rasch blickte sich ihre Mutter um: „Schatz, da ist niemand.“
Maribel schloss die Augen und öffnete sie wieder. Die Fee war verschwunden.
„Morgen schauen wir nach Essie. Schlaf schön!“
Sie gab Maribel einen Gute-Nacht-Kuss, knipste das Licht aus und lehnte hinter sich die Tür an. Es dauerte eine Weile, aber dann fielen Maribel die Augen zu.

Ihr neues Zuhause war ein alter Bauernhof mit zahlreichen Zimmern, Ställen und Schuppen. Also, mit vielen guten Verstecken. Am nächsten Tag suchte Maribel fieberhaft nach Essie und vergaß dabei die Zeit – wie weit konnte ein Drache denn nur fliegen? Die Herbstsonne ging bereits unter, als ihre Mutter sie zum Abendessen rief.

Schweigend saß Maribel vor ihrem Butterbrot, den Kopf auf beide Hände abgestützt. Da gab es einen Knall. Maribel schreckte hoch, ihre Mutter verschüttete den Tee. Die Tür zum Wohnzimmer war zugefallen.
„Mama, es ist doch gar kein Wind!“
„Das war ein Luftzug. Das kommt vor. Iss dein Brot, Schatz, damit du morgen genug Energie hast, um weiter nach Essie zu suchen.“

Mit gesenktem Kopf ging Maribel zu Bett. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, auf den Bauernhof zu ziehen. Doch nur so konnten sie die Pferde halten, die sie so liebte.
„Das Nachtlicht soll an bleiben. Essie findet dann vielleicht den Weg von alleine zurück.“
„Bestimmt, mein Schatz“, antwortete ihre Mutter, küsste sie und verließ das Zimmer.
Maribel kuschelte sich ein und schloss die Augen.

Sie hörte ein leises „Pst“. Das Geräusch war neu. Sie öffnete die Augen. Da war es wieder gewesen. Nun aber viel näher. Maribel richtete sich auf und am Ende des Bettes stand die Fee von gestern Nacht.
„Wer bist du?“
„Du kannst mich wirklich sehen?“
Maribel rieb sich die Augen und nickte.
„Das ist unmöglich. Was habe ich an?“
„Ein weißes Kleid mit langen Ärmeln. Wie heißt du?“
„Oh, das ist nicht gut.“
„Wieso nicht?“ Maribel runzelte die Stirn. „Du bist doch eine Fee!“
Das Wesen schüttelte den Kopf.
„Ich heiße Anni. Ich bin ein Geist und Spuken macht nur Spaß, wenn die Menschen mich nicht sehen.“
Maribel riss ihre Äuglein auf: „Dann machst du die Geräusche und den Wind im Haus? Warum machst du das?“
„Ich tue, was Gespenster halt so tun. Herumgeistern, Menschen erschrecken und ärgern.“
„Verstehe ich nicht, du könntest doch auch andere Dinge tun, statt Menschen zu ärgern. Schöne Dinge. So bleibst du ja für immer alleine, weil dich keiner mag.“
Anni schaute zu Boden.
„Mama sagt, man kann jederzeit wer anders sein, man muss es nur ganz stark wollen.“
Anni blickte auf: „Aber so bin ich nicht.“ Und verschwand.

Nach einer weiteren aufreibenden Suche kam Maribel am nächsten Tag in die Küche und hörte ihre Mutter schimpfen, die auf dem Küchenboden kniete.
„Mama, was ist los?“
„Ich bin kurz zur Toilette und als ich wiederkam, war das ganze Mehl über den Boden verteilt. Es muss umgefallen sein. So wie es aussieht, wird es morgen zu deinem Geburtstag keinen Kuchen geben. Es tut mir leid, Schatz!“
„Das war bestimmt Anni. Sie ärgert einen gerne.“
„Anni?“
„Sie ist ein Geist.“
Ihre Mutter lächelte gepresst. „Sag Anni gerne, dass wir das nicht spaßig finden.“

Abends saß Maribel im Bett und weinte.
„Warum weinst du?“, fragte Anni und kam im Schein des Nachtlichts näher.
„Morgen gibt es keinen Kuchen zu meinem Geburtstag, weil du das Mehl verschüttet hast.“
Maribel schluchzte.
„Essie fehlt mir so sehr. Du hast bestimmt mein Kuscheltier genommen. Du bist der blödeste Geist auf der ganzen Welt.“
„Aber ich habe dein Kuscheltier nicht genommen“, sagte Anni bedrückt.
„Geh weg! Am besten für immer!“
Annis Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte doch nur spuken, so wie alle anderen Geister, aber Maribel dabei soviel Kummer machen? Nein! Wie konnte sie das wieder gut machen? Wenn sie das Kuscheltier nicht genommen hatte, wo war es dann?

Weit nach Mitternacht schlief Maribel endlich im Licht der kleinen Nachttischleuchte ein. Anni hatte das ganze Grundstück und jede Ecke des Hauses durchsucht, bis auf Maribels Zimmer. Sachte öffnete sie die Schranktüren, Schubladen und Spielzeugkisten. Doch von Essie keine Spur. Anni nahm sich vor, noch einmal alles genau unter die Lupe zu nehmen. Da fiel der Deckel einer Kiste zu und es machte paff. Anni erschrak. Sie versteckte sich unter dem Bett und entdeckte dabei eine kleine, grüne Schwanzspitze. Essie! Behutsam legte Anni den Drachen neben Maribel, die noch im Schlaf danach griff und das Kuscheltier eng an sich zog.

Lächelnd schwebte Anni in dieser Nacht durch die Flure. Wo bekam man um diese Uhrzeit Mehl her? In der Küche wurde Anni fündig. Ganz hinten in einem Küchenschrank hatte sich noch ein Paket versteckt.

Maribel stürmte am nächsten Morgen im Schlafanzug in die Küche. Den Drachen fest umklammert.
„Mama, Mama. Essie ist wieder da.“
„Das gibt es doch nicht. Ein Wunder! Wie schön!“
Ihre Mutter drückte Maribel ganz fest.
„Herzlichen Glückwunsch, meine Große! Schau mal, ich habe da auch was für dich!“
Maribels Lieblingsschokoladenkuchen stand auf dem Küchentisch und sechs große Kerzen warteten darauf, ausgepustet zu werden. Sie kletterte auf einen Stuhl und setzte Essie auf dem Tisch ab. Anni erschien und zwinkerte ihr zu. Mit großen Augen lächelte Maribel den großen Geist an und pustete die Kerzen aus.

WAS IST MIT MIRKO


Jetzt guckst du! Ja, zuerst habt ihr euch nur getroffen, zufällig, im Supermarkt. Am Kühlregal, vor den abgepackten Gulaschsuppen. Er hat dich angelächelt. Süß und umwerfend, was hast du gesabbert.…

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BIRDIE

Birdie

Es roch nach frisch gemähtem Gras und der Kies knirschte unter seinen Schuhen, als Werner seine Golfsachen aus dem Kofferraum holte. Er hörte den satten Klang eines erstklassig abgeschlagenen Balls und von Weitem schallte ein kräftiges „Fore!“ durch die sommerliche Luft. Er lächelte. Drei Monate hatte er ausgesetzt, ab heute würde er selbst wieder auf dem Platz stehen und sein absolutes Glücksloch spielen – die Nummer 13. In drei Jahrzehnten Clubmitgliedschaft immer ein Schlag unter Par. Immer ein Birdie.

Er setzte die Kappe auf, die in großen Lettern seinen Namen trug, und schob den Golf Trolley über den Parkplatz. An der Driving Range warteten bereits Mirac und Günni auf ihn. Sie wollten eine Übungsrunde spielen. In vier Wochen stand ein wichtiges Turnier an, auf dem Werner um jeden Preis sein Handicap verbessern wollte.

„Na Männer, alles fit?“, begrüßte er sie und stellte den Trolley neben dem Gehweg ab.
Sie nickten.
„Und bei dir? Ich meine, die Sache mit dem Huhn …“, fragte Günni und trat von einem Fuß auf den anderen.
Werner schluckte und schaute sich um: „Wo ist Adam?“
„Ausgetreten“, antwortete Mirac. „Schon vor Monaten. Hatte wohl keine Lust mehr, der Gute.“
„Wie?“
Günni kratzte sich am Kopf: „Wollten es auch erst nicht glauben, aber Sandro hat uns die Kündigung seiner Mitgliedschaft gezeigt.“
Obwohl Werner es für einen großen Scherz hielt, lachte er nicht. Adam liebte doch das Golfen. Auf nichts und niemanden war mehr Verlass.
„Was für ein Depp. Dann los, Männer!“
Werner nahm seinen Trolley und sie liefen zum ersten Abschlag des Tages.

Sein Debütball nach der Pause klang voll und flog weit. Nach fünf Spielen lag Werner genau auf Par. Dies blieb so, bis sie zu Loch 13 kamen.
Werner rieb sich die Hände, strahlte und zog den Driver aus seiner Golftasche. Er drapierte den Ball auf das Tee, schaute die Bahn entlang und nahm die Fahne ins Visier. 287 Meter bis zum Ziel. 287 Meter bis zu seinem Birdie.

Nach drei, vier Probeschwüngen sprach er den Ball an, zog den Schläger auf und schwang durch, hin zu einem perfekten Treffmoment. Er schaute dem Ball hinterher, der weder zu wenig noch zu viel Spin hatte, der auf dem höchsten Punkt seines Fluges in der Sonne funkelte, abflaute und in weiter Entfernung im Gras liegenblieb. Während Mirac und Günni spielten, konnte Werner es kaum erwarten, seinen Ball aufs Grün zu putten. Er wollte schon zu ihm sprinten, aber das verbot natürlich die Etikette.

Sein Lächeln krachte augenblicklich zu Boden, als er seinen Ball entdeckte. Dieser ruhte vor einem kniehohen, mit Gras überwachsenen Hügel, den er mit großen Augen musterte. Er zog sich quer über seine Lieblingsbahn. Zwanzig Meter vor dem Grün.
„Was ist das?“
„Ein Hügel“, antwortete Günni und kramte nach einem Taschentuch, um sich die Nase zu putzen.
„Das sehe ich auch. Wie kommt der hier hin?“
Seine Mitspieler zuckten mit den Schultern. Werner lief um den Hügel herum und begutachtete ihn: „Warum hat mir das keiner gesagt?“
„Werner, es ist ein Hügel. Mehr nicht,“ versuchte Mirac ihn zu beruhigen, wissend, dass der nächste Flight bereits am Abschlag ungeduldig wurde.
„Das ist Schikane.“
Am liebsten hätte Werner seinen Schläger auf der Stelle zertrümmert, doch im letzten Moment mahnte er sich.

Zwei Stunden später erreichten sie das Clubhaus und Werner stiefelte ohne Umwege in das Büro von Sandro: „Der Hügel muss weg!“
„Maulwürfe, Werner. Natur halt“, entgegnete Sandro und hackte weiter auf seine Tastatur ein.
„Ne, nix Maulwurf. Ich spreche von dem halben Berg auf Bahn 13. Ich musste den Ball pitchen. Normalerweise putte ich ihn direkt aufs Grün. Statt wie sonst drei, habe ich vier Schläge gebraucht. Inakzeptabel!“
Sandro richtete sich in seinem Bürostuhl auf: „Bahn 13 musste auf natürlichem Weg erschwert werden. Neue Richtlinien. Sonst hätten wir unser Course Rating nicht halten können.“
Werner kniff die Augen zusammen.
Sandro stand auf: „Was den Hügel betrifft, sind mir die Hände gebunden, Werner. Aber was hältst du von einer Trainerstunde? Aufs Haus. Ein paar Monate Pause gehen schon mal zu Lasten des Spiels. Keine falsche Scham, mein Lieber!“
Werner schnaufte.
Sandro hielt ihm die Hand entgegen: „Zwei Trainerstunden und zwanzig Eimer Bälle? Bis zum Turnier bist du wieder der Alte. Versprochen!“
Kopfschüttelnd schlug Werner ein.

Selbst nach sechshundertvierzig Bällen auf der Driving Range, intensiven Trainerstunden und Krafttraining im Fitnessstudio gelang es Werner kein einziges Mal, den Ball hinter den Hügel zu bringen. Er kaufte neue Schläger, Bälle, Tees. Werner bekam immer mehr Lust, auf den Hügel einzudreschen. Sein inneres Spiel litt und der Tag des Turniers rückte stetig näher.

Am Ende des Turniers war klar: Nicht nur, dass er das Birdie nicht geschafft hatte, auch sein Handicap blieb deshalb unverändert. Als er die Zahl schwarz auf weiß vor sich sah, sah er nur noch rot.

Mit einer Schaufel bewaffnet lief Werner über den Golfplatz, während Sandro hinter ihm herjagte und schrie: „Bist du von Sinnen?“
Werner setzte die Schaufel an, als Sandro neben ihm auftauchte, sich die Seite hielt und keuchte: „Wenn du das machst, muss ich dir … die Mitgliedschaft entziehen.“
„Entweder der Kackhügel oder ich!“
„Ich glaube, der Hügel steht für etwas anderes. Du vermisst das Huhn. Und nun gib mir die Schaufel.“
Sandro hielt seine offene Hand hin, während Werner die Nase verzog: „Was erzählst du da?“
„Seit das Huhn nicht mehr ist, bist du nicht mehr derselbe. Wie auch? Das braucht seine Zeit. Fahrt doch mal weg. Vergiss den Hügel! Gönnt euch eine Auszeit. Isolde wird sich freuen.“
„Womöglich hast du recht, alter Freund. Das Huhn hat uns eine Menge bedeutet.“
Werner gab Sandro die Schaufel und trottete Richtung Parkplatz.

Im Auto zog er seine Kappe ab, legte sie auf den Beifahrersitz, startete den Motor und fuhr vom Parkplatz. Ja, das Leben hatte ihm das Huhn genommen, aber nun auch noch das Golfen? Sein Birdie? Er stieg auf die Bremse, stellte den Motor ab und zog seine Kappe wieder auf.

Durch eine Seitentür betrat er die schwach erleuchtete Scheune, in der die Arbeitsmaterialen der Greenkeeper lagerten. Das Garagentor fuhr hoch, Werner legte den ersten Gang ein und der Bagger donnerte über den Asphalt. Er nahm den direkten Weg zu seiner Lieblingsbahn.

Schneisen zogen sich durch das Gras, die Stiefmütterchen hatten keine Chance. Ein Hase, der an einem Grashalm kaute, sprang in der allerletzten Sekunde zur Seite.
Er machte auch nicht Halt, als er Sandro sah, der mit wehenden Armen vor seinem verdammten Verordnungshügel stand, denn Werner kannte nur ein Ziel: Den Hügel ein für alle Mal zu beseitigen.

Er fuhr die Schaufel aus und trug Schicht für Schicht ab, während Sandro an der Tür rüttelte, mit Fäusten gegen die Scheiben haute und brüllte, bis er heiser wurde.
Als Werner ausstieg, stand Sandro nur noch wie ein Häufchen Elend neben dem Bagger.
„Wir streuen ein paar Grassamen über die Stelle und alles ist wieder gut, alter Freund.“
Er schlug Sandro auf die Schulter, wodurch der nur noch weiter in sich zusammensackte. Grinsend nahm Werner den Spaten, um die Fläche zu ebnen, als er eine längliche Holzkiste entdeckte, die im Erdreich eingebettet war. Sie schaute nur wenige Zentimeter über der Grasnarbe hervor.
„Was zum Henker …“
Mit der Schaufel hebelte Werner die Kiste auf und schaute in die toten Augen von Adam.

 

 

Wer wissen möchte, was es mit dem Huhn auf sich hat: Ein schwarzer Tag

WAS IST MIT MIRKO


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EIN SCHWARZER TAG

Ein schwarzer Tag

„Werner?“
Wenn er hinter seiner Zeitung still bliebe, würde sie das Gespräch fallen lassen.
„Werner, weißt du, was heute für ein Tag ist?“
Er riss die Augen auf. Hochzeitstag? Ihr Geburtstag? Ausgeschlossen, denn seine Tochter erinnerte ihn stets an solche Ereignisse. Sie kümmerte sich ebenfalls um Blumen, Konfekt und eine Karte. Jahr ein, Jahr aus.

Er lugte über den Rand der Zeitung und sah, dass sie ihr Frühstück nicht angefasst hatte. Selbst das sonst so geliebte Ei aus dem hausansässigen Hühnerstall ruhte noch im Becher. Seines war perfekt gewesen. Wie jeden Morgen. Auf das Huhn war eben Verlass.
„Ich wollte eigentlich nichts sagen, aber Werner, was ist, wenn die Karten sich nicht irren?“
Er räusperte sich.
„Welche Karten?“
„Na, die Tarot-Karten. Wie kannst du so etwas vergessen, Werner? Als wir bei Schöllers zum Geburtstag waren. Da war doch diese Wahrsagerin, die uns die Karten gelegt hat.“
„Nein, keinen Schimmer. Wann soll das gewesen sein?“
„Vor dreißig Jahren, in etwa.“
„Isolde, ich bitte dich. Ich weiß doch heute nicht mehr, was vor dreißig Jahren war. Menschenskind, ich werde jetzt die Zeitung in Ruhe weiterlesen.“
„Werner, einer von uns beiden wird den Tag nicht überleben.“
Er rümpfte die Nase.
„Isolde, das ist Unfug. Das kann kein Mensch voraussagen.“
„Doch, sie schon. Heute soll ein schwarzer Tag für uns werden. Wir müssen uns von etwas Geliebtem verabschieden. Das waren ihre Worte.“
Er schüttelte den Kopf.
„Das ist lächerlich. Absoluter Humbug.“
„Werner, bitte sei vorsichtig. Pass auf dich auf!“
Er schlug die Zeitung zu, die neben seinem Stuhl zu Boden flatterte.
„Wieso sollte ich aufpassen? Es könnte dich genauso treffen, meine Liebe.“
„Sie hat dich aber angeschaut, als sie es gesagt hat.“
„Aha, sie hat mich angeschaut. Das ist kein Indiz. Ich war damals ein fescher Kerl im besten Alter. Natürlich hat sie mich angeschaut.“
„Werner, sie meinte ganz bestimmt dich.“
„Isolde, wie du gesagt hast, sie hat uns beiden die Karten gelegt. Wir sitzen im gleichen Boot. Fifty-Fifty, wie man so schön sagt.“
„Statistisch ist meine Lebenserwartung höher als deine.“
„Dafür sind meine Cholesterin-Werte besser. Und durch das Rückentraining habe ich sogar ein paar Pfunde abgenommen.“
„Du könntest auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall haben.“
„Um zu sterben, muss man nicht unbedingt das Haus verlassen, Isolde. Du könntest beim Fensterputzen von der Leiter fallen.“
„Die Fenster habe ich letzte Woche geputzt. Die sind erst in dreizehn Tagen wieder fällig. Aber du, mein Lieber, könntest dich in der Kantine an einer Gräte verschlucken.“
„Isolde, das ist Quatsch. Lass uns vernünftig bleiben! Heute gibt es Schnitzel. Wie jeden Donnerstag. Und ich sage dir, es kackt mir eher ein Vogel auf den Kopf, als das einer von uns beiden stirbt. Keinem von uns beiden wird heute etwas passieren. Sei versichert.“
„Wie du meinst, Werner. Ich habe dich gewarnt. Wenn du tot bist, beschwer dich dann aber bitte nicht bei mir.“
„Oh, das werde ich schon nicht. Keine Sorge.“

Isolde deckte den Frühstückstisch ab, während Werner das Haus verließ und zu seinem Auto ging. Er schaute gen Himmel. Kein Vogel in der Luft. Sie saßen zwitschernd in den Bäumen. Alles hatte seine Ordnung. Er lächelte, stolperte und kam ins Straucheln. Bevor er hinfiel und aufschlug, fand er im allerletzten Moment sein Gleichgewicht wieder.
Auf dem Weg zur Arbeit fuhr er maximal vierzig Stundenkilometer, trotz des anhaltenden Hupkonzertes um ihn herum. Zum Mittagessen nahm er die Suppe. Und beim Gehen schaute er stets auf seinen nächsten Schritt.
Als Werner sich abends fürs Bett fertigmache und Isolde ins Schlafzimmer kam, verkündete er: „Siehst du Isolde, ich lebe noch. Wir leben noch. Lass es mich dir sagen, die Kartenlegerei, der ganze esoterische Kram, das ist alles Lug und Trug.“
„Werner, ich komme gerade aus dem Stall. Es gibt ab jetzt keine Eier mehr. Das Huhn ist tot.“

 

Fortsetzung zu „Ein schwarzer Tag“: Birdie

WAS IST MIT MIRKO


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PAUSENKNOPF

Pausenknopf

Sie reichte ihm die Hand und strahlte: „Hallo, ich bin Lilo.“
Er starrte sie lediglich an. Sie nahm ihre Hand und ihr Strahlen zurück und schaute hilfesuchend zu Charlotte, die leicht den Kopf schüttelte: „Er meint das nicht böse. Leopold redet nicht gerne.“
Lilo runzelte die Stirn und schaute zu Leopold, der seinen Platz wieder einnahm.
„Hier ist dein Schreibtisch“, unterbrach Charlotte die Stille. „Willkommen bei uns in der Abteilung.“
Lilo setzte sich: „Was kann ich tun?“
„Hier sind Anträge. Die müssen ins System eingegeben werden.“
„Alles klar.“
Lilo kniete sich in die Bearbeitung der Anträge und war froh, dass sie sich hinter dem Bildschirm vor Leopold verstecken konnte.


Die Uhr zeigte kurz nach zwölf. Lilo stand auf und schnappte sich ihre Tasche: „Ich mache jetzt Mittag. Bis später.“
„Halt, Lilo!“, bemerkte Charlotte. „Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass wir erst in die Pause gehen, wenn Leopold den Pausenknopf gedrückt hat.“
„Was für einen Knopf?“
„Den Pausenknopf. Bitte setze dich wieder! Bitte!“
„Ne, bin verabredet. Wo ist der Pausenknopf? Wenn es so wichtig ist, dann drücke ich ihn eben.“
„Es ist der oberste Knopf an Leopolds Strickjacke.“
Lilos Blick wanderte zu Leopold.
„Leopold, ich habe Hunger. Könntest du bitte den Knopf drücken.“ Er rührte sich nicht, sondern tippte weiter.
„Lilo, wir halten uns alle daran. Seit Jahren. Könntest du dich bitte wieder setzen.“
„Ich aber nicht.“ Lilo stürmte aus dem Raum.

 

Als Lilo aus der Pause kam, war Charlotte allein.
„Wo ist Leopold?“
„Nach Hause gegangen. Er fühlte sich nicht wohl.“
„Wie? Weil ich seinen Quatsch mit dem Pausenknopf nicht mitgemacht habe.“
Charlotte nickte.
„Ernsthaft?“
Charlotte nickte erneut.
„Das ist doch lächerlich.“
Lilo ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Bis zum Feierabend blieb es still im Raum.

 

Auch am nächsten Tag kam Leopold nicht zur Arbeit.
„Er kommt erst wieder, wenn auch du dich an den Pausenknopf hältst.“
„Das ist doch verrückt. Was ist, wenn er den Knopf nicht drückt? Verhungerst du dann lieber?“
Charlotte lächelte: „Unsinn. Das ist noch nie vorgekommen. Außerdem habe ich immer eine kleine Notration in der Schublade.“
„Wieso machst du das mit?“
Charlotte zuckte mit den Schultern: „Wieso fällt es dir so schwer, mitzumachen und Leopold so zu akzeptieren, wie er ist?“
Lilo spitzte ihre Lippen. Ihre Augen blitzten.
Charlotte wartete ihre Antwort nicht ab und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.

 

Als Lilo am nächsten Tag ins Büro kam, saß Leopold bereits an seinem Platz. Charlottes Schreibtisch war verwaist.
Bereits gestern war Lilo mit den Anträgen fertig geworden, so dass sie überlegte, ob sie Leopold nach Arbeit fragen oder auf Charlotte warten sollte.
„Charlotte kommt heute nicht.“
Lilo schaute hinter sich, aber da stand niemand.
„Sie ist krank.“
Langsam richtete sie sich auf und schaute über den Bildschirmrand rüber zu Leopold. Er sprach mit ihr.
„Kann ich etwas von ihrer Arbeit übernehmen?“
Sie erwartete keine Antwort von ihm, ärgerte sich, dass sie überhaupt gefragt hatte, und versank wieder hinter dem Bildschirm.
„Die ins System übertragenen Anträge müssen mit einer der Nummern versehen werden, die auf dem Blatt notiert sind, das ich dir heute Morgen auf deinen Schreibtisch gelegt habe.“
Lilo schnaufte und schloss die Augen.
„Leopold, warum hast du mir die Nummern nicht vor zwei Tagen gegeben?“
„Wie meinst du das?“
„Sie lagen dir ja schon Montag vor. Ich muss jetzt jeden Antrag noch einmal bearbeiten. Und das alles nur, weil ich deinen bescheuerten Pausenknopf nicht ernst genommen habe?“
„Wie kommst du darauf, dass der bescheuert ist?“, rief Leopold aus.
„Also, ist das der Grund, warum du mir die Nummern nicht schon vor zwei Tagen gegeben hast?“
„Nein. Ich habe sie heute Morgen auf dem Tisch von Charlotte gefunden, als ihr Telefon geläutet hat.“
„Charlotte hatte sie?“
„Genau, Charlotte.“
„Das glaube ich nicht. Warum sollte sie mir die Nummern nicht geben?“
Er schwieg. Lilo hackte die Zahlen in die Antragsmasken. Es wurde Mittag.

 

„Leopold, ich gehe in Pause.“
„Ich habe den Knopf nicht gedrückt.“
„Der interessiert mich nicht. Der gilt für mich nicht.“
„Der gilt für alle, die in diesem Raum arbeiten.“
„Fein, wie du meinst.“
Lilo schritt zu ihm rüber, drückte den obersten Knopf seiner Strickjacke und strahlte, während er die Augen aufriss und nach Worten suchte.
„Warum hast du das getan? Du hast das Andenken an meine Mutter beschädigt.“
„Ich soll was getan haben?“
„Meine Mutter hat den Knopf immer gedrückt, bevor wir gemeinsam gegessen haben.“
„Sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn du auch mal so in die Pause gehst und was isst.“
„Ich weiß es nicht. Sie ist gestorben, als ich sieben war.“
„Das tut mir leid.“
Er legte den Kopf schief und verzog den Mund.
„Das Drücken erinnert mich an sie. Ich habe Angst, wenn ich es nicht tue, dass ich sie vergesse.“
„Das ist eine schöne Art, sich zu erinnern, Leopold. Und, weil ihr immer zusammen gegessen habt, ist es dir auch wichtig, dass wir gemeinsam Pause machen?“
Er lächelte.
„Ich schlage vor, dass ich noch ein paar Anträge bearbeite und du drückst den Knopf, wenn du soweit bist.“
„Lilo, ich glaube, heute können wir auch mal so in die Pause gehen.“

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