Großgeistig

Maribel schlüpfte unter die Bettdecke. Traurig, dass ihr Lieblingskuscheltier nicht bei ihr war. Seit heute morgen war der Drache spurlos verschwunden.
„Morgen suchen wir weiter. Jetzt wird aber erst einmal geschlafen,“ sagte ihre Mutter und setzte sich auf die Bettkante.
„Gestern Abend war Essie noch da.“
„Er wird bestimmt nicht weit sein. Wir finden ihn.“
„Mama, hörst du nachts auch die Geräusche?“
„Ja, die höre ich auch. Das lässt sich bei so einem alten Haus nicht vermeiden. Wir wohnen ja auch erst ein paar Tage hier. Es braucht wohl ein bisschen, bis wir uns an die neue Umgebung gewöhnt haben.“
Maribel spitzte ihr Mündchen. Unschlüssig, ob sie sich jemals an das Knarren, Knarzen und Rumpeln gewöhnen würde, aber Mama hatte bestimmt recht. So ließ sie sich ins Kissen fallen, drehte den Kopf zur Seite, zeigte mit dem Finger in die eine dunkle Ecke des Zimmers und flüsterte: „Mama, dort steht eine Fee.“
Rasch blickte sich ihre Mutter um: „Schatz, da ist niemand.“
Maribel schloss die Augen und öffnete sie wieder. Die Fee war verschwunden.
„Morgen schauen wir nach Essie. Schlaf schön!“
Sie gab Maribel einen Gute-Nacht-Kuss, knipste das Licht aus und lehnte hinter sich die Tür an. Es dauerte eine Weile, aber dann fielen Maribel die Augen zu.

Ihr neues Zuhause war ein alter Bauernhof mit zahlreichen Zimmern, Ställen und Schuppen. Also, mit vielen guten Verstecken. Am nächsten Tag suchte Maribel fieberhaft nach Essie und vergaß dabei die Zeit – wie weit konnte ein Drache denn nur fliegen? Die Herbstsonne ging bereits unter, als ihre Mutter sie zum Abendessen rief.

Schweigend saß Maribel vor ihrem Butterbrot, den Kopf auf beide Hände abgestützt. Da gab es einen Knall. Maribel schreckte hoch, ihre Mutter verschüttete den Tee. Die Tür zum Wohnzimmer war zugefallen.
„Mama, es ist doch gar kein Wind!“
„Das war ein Luftzug. Das kommt vor. Iss dein Brot, Schatz, damit du morgen genug Energie hast, um weiter nach Essie zu suchen.“

Mit gesenktem Kopf ging Maribel zu Bett. Wahrscheinlich war es keine gute Idee gewesen, auf den Bauernhof zu ziehen. Doch nur so konnten sie die Pferde halten, die sie so liebte.
„Das Nachtlicht soll an bleiben. Essie findet dann vielleicht den Weg von alleine zurück.“
„Bestimmt, mein Schatz“, antwortete ihre Mutter, küsste sie und verließ das Zimmer.
Maribel kuschelte sich ein und schloss die Augen.

Sie hörte ein leises „Pst“. Das Geräusch war neu. Sie öffnete die Augen. Da war es wieder gewesen. Nun aber viel näher. Maribel richtete sich auf und am Ende des Bettes stand die Fee von gestern Nacht.
„Wer bist du?“
„Du kannst mich wirklich sehen?“
Maribel rieb sich die Augen und nickte.
„Das ist unmöglich. Was habe ich an?“
„Ein weißes Kleid mit langen Ärmeln. Wie heißt du?“
„Oh, das ist nicht gut.“
„Wieso nicht?“ Maribel runzelte die Stirn. „Du bist doch eine Fee!“
Das Wesen schüttelte den Kopf.
„Ich heiße Anni. Ich bin ein Geist und Spuken macht nur Spaß, wenn die Menschen mich nicht sehen.“
Maribel riss ihre Äuglein auf: „Dann machst du die Geräusche und den Wind im Haus? Warum machst du das?“
„Ich tue, was Gespenster halt so tun. Herumgeistern, Menschen erschrecken und ärgern.“
„Verstehe ich nicht, du könntest doch auch andere Dinge tun, statt Menschen zu ärgern. Schöne Dinge. So bleibst du ja für immer alleine, weil dich keiner mag.“
Anni schaute zu Boden.
„Mama sagt, man kann jederzeit wer anders sein, man muss es nur ganz stark wollen.“
Anni blickte auf: „Aber so bin ich nicht.“ Und verschwand.

Nach einer weiteren aufreibenden Suche kam Maribel am nächsten Tag in die Küche und hörte ihre Mutter schimpfen, die auf dem Küchenboden kniete.
„Mama, was ist los?“
„Ich bin kurz zur Toilette und als ich wiederkam, war das ganze Mehl über den Boden verteilt. Es muss umgefallen sein. So wie es aussieht, wird es morgen zu deinem Geburtstag keinen Kuchen geben. Es tut mir leid, Schatz!“
„Das war bestimmt Anni. Sie ärgert einen gerne.“
„Anni?“
„Sie ist ein Geist.“
Ihre Mutter lächelte gepresst. „Sag Anni gerne, dass wir das nicht spaßig finden.“

Abends saß Maribel im Bett und weinte.
„Warum weinst du?“, fragte Anni und kam im Schein des Nachtlichts näher.
„Morgen gibt es keinen Kuchen zu meinem Geburtstag, weil du das Mehl verschüttet hast.“
Maribel schluchzte.
„Essie fehlt mir so sehr. Du hast bestimmt mein Kuscheltier genommen. Du bist der blödeste Geist auf der ganzen Welt.“
„Aber ich habe dein Kuscheltier nicht genommen“, sagte Anni bedrückt.
„Geh weg! Am besten für immer!“
Annis Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte doch nur spuken, so wie alle anderen Geister, aber Maribel dabei soviel Kummer machen? Nein! Wie konnte sie das wieder gut machen? Wenn sie das Kuscheltier nicht genommen hatte, wo war es dann?

Weit nach Mitternacht schlief Maribel endlich im Licht der kleinen Nachttischleuchte ein. Anni hatte das ganze Grundstück und jede Ecke des Hauses durchsucht, bis auf Maribels Zimmer. Sachte öffnete sie die Schranktüren, Schubladen und Spielzeugkisten. Doch von Essie keine Spur. Anni nahm sich vor, noch einmal alles genau unter die Lupe zu nehmen. Da fiel der Deckel einer Kiste zu und es machte paff. Anni erschrak. Sie versteckte sich unter dem Bett und entdeckte dabei eine kleine, grüne Schwanzspitze. Essie! Behutsam legte Anni den Drachen neben Maribel, die noch im Schlaf danach griff und das Kuscheltier eng an sich zog.

Lächelnd schwebte Anni in dieser Nacht durch die Flure. Wo bekam man um diese Uhrzeit Mehl her? In der Küche wurde Anni fündig. Ganz hinten in einem Küchenschrank hatte sich noch ein Paket versteckt.

Maribel stürmte am nächsten Morgen im Schlafanzug in die Küche. Den Drachen fest umklammert.
„Mama, Mama. Essie ist wieder da.“
„Das gibt es doch nicht. Ein Wunder! Wie schön!“
Ihre Mutter drückte Maribel ganz fest.
„Herzlichen Glückwunsch, meine Große! Schau mal, ich habe da auch was für dich!“
Maribels Lieblingsschokoladenkuchen stand auf dem Küchentisch und sechs große Kerzen warteten darauf, ausgepustet zu werden. Sie kletterte auf einen Stuhl und setzte Essie auf dem Tisch ab. Anni erschien und zwinkerte ihr zu. Mit großen Augen lächelte Maribel den großen Geist an und pustete die Kerzen aus.

TODESMUTIG


„Das Leben möchte sich von mir scheiden lassen. Es findet, dass ich zu destruktiv bin“, sagte der Tod und rümpfte die Nase. „Nein“, schrie das Schicksal auf. „Ich weiß, ich weiß. Kaum zu glauben,…

RAUSCHGOLDENGEL (IMMER LEICHT EINEN SITZEN)


Alle waren sie bei ihren Familien und Freunden oder auf dem Weihnachtsmarkt in der Altstadt. Er lief den Gang entlang und schaute auf sein Diensthandy. Keine Anrufe, keine neuen Nachrichten, keine…