Ein schwarzer Tag

„Werner?“
Wenn er hinter seiner Zeitung still bliebe, würde sie das Gespräch fallen lassen.
„Werner, weißt du, was heute für ein Tag ist?“
Er riss die Augen auf. Hochzeitstag? Ihr Geburtstag? Ausgeschlossen, denn seine Tochter erinnerte ihn stets an solche Ereignisse. Sie kümmerte sich ebenfalls um Blumen, Konfekt und eine Karte. Jahr ein, Jahr aus.

Er lugte über den Rand der Zeitung und sah, dass sie ihr Frühstück nicht angefasst hatte. Selbst das sonst so geliebte Ei aus dem hausansässigen Hühnerstall ruhte noch im Becher. Seines war perfekt gewesen. Wie jeden Morgen. Auf das Huhn war eben Verlass.
„Ich wollte eigentlich nichts sagen, aber Werner, was ist, wenn die Karten sich nicht irren?“
Er räusperte sich.
„Welche Karten?“
„Na, die Tarot-Karten. Wie kannst du so etwas vergessen, Werner? Als wir bei Schöllers zum Geburtstag waren. Da war doch diese Wahrsagerin, die uns die Karten gelegt hat.“
„Nein, keinen Schimmer. Wann soll das gewesen sein?“
„Vor dreißig Jahren, in etwa.“
„Isolde, ich bitte dich. Ich weiß doch heute nicht mehr, was vor dreißig Jahren war. Menschenskind, ich werde jetzt die Zeitung in Ruhe weiterlesen.“
„Werner, einer von uns beiden wird den Tag nicht überleben.“
Er rümpfte die Nase.
„Isolde, das ist Unfug. Das kann kein Mensch voraussagen.“
„Doch, sie schon. Heute soll ein schwarzer Tag für uns werden. Wir müssen uns von etwas Geliebtem verabschieden. Das waren ihre Worte.“
Er schüttelte den Kopf.
„Das ist lächerlich. Absoluter Humbug.“
„Werner, bitte sei vorsichtig. Pass auf dich auf!“
Er schlug die Zeitung zu, die neben seinem Stuhl zu Boden flatterte.
„Wieso sollte ich aufpassen? Es könnte dich genauso treffen, meine Liebe.“
„Sie hat dich aber angeschaut, als sie es gesagt hat.“
„Aha, sie hat mich angeschaut. Das ist kein Indiz. Ich war damals ein fescher Kerl im besten Alter. Natürlich hat sie mich angeschaut.“
„Werner, sie meinte ganz bestimmt dich.“
„Isolde, wie du gesagt hast, sie hat uns beiden die Karten gelegt. Wir sitzen im gleichen Boot. Fifty-Fifty, wie man so schön sagt.“
„Statistisch ist meine Lebenserwartung höher als deine.“
„Dafür sind meine Cholesterin-Werte besser. Und durch das Rückentraining habe ich sogar ein paar Pfunde abgenommen.“
„Du könntest auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall haben.“
„Um zu sterben, muss man nicht unbedingt das Haus verlassen, Isolde. Du könntest beim Fensterputzen von der Leiter fallen.“
„Die Fenster habe ich letzte Woche geputzt. Die sind erst in dreizehn Tagen wieder fällig. Aber du, mein Lieber, könntest dich in der Kantine an einer Gräte verschlucken.“
„Isolde, das ist Quatsch. Lass uns vernünftig bleiben! Heute gibt es Schnitzel. Wie jeden Donnerstag. Und ich sage dir, es kackt mir eher ein Vogel auf den Kopf, als das einer von uns beiden stirbt. Keinem von uns beiden wird heute etwas passieren. Sei versichert.“
„Wie du meinst, Werner. Ich habe dich gewarnt. Wenn du tot bist, beschwer dich dann aber bitte nicht bei mir.“
„Oh, das werde ich schon nicht. Keine Sorge.“

Isolde deckte den Frühstückstisch ab, während Werner das Haus verließ und zu seinem Auto ging. Er schaute gen Himmel. Kein Vogel in der Luft. Sie saßen zwitschernd in den Bäumen. Alles hatte seine Ordnung. Er lächelte, stolperte und kam ins Straucheln. Bevor er hinfiel und aufschlug, fand er im allerletzten Moment sein Gleichgewicht wieder.
Auf dem Weg zur Arbeit fuhr er maximal vierzig Stundenkilometer, trotz des anhaltenden Hupkonzertes um ihn herum. Zum Mittagessen nahm er die Suppe. Und beim Gehen schaute er stets auf seinen nächsten Schritt.
Als Werner sich abends fürs Bett fertigmache und Isolde ins Schlafzimmer kam, verkündete er: „Siehst du Isolde, ich lebe noch. Wir leben noch. Lass es mich dir sagen, die Kartenlegerei, der ganze esoterische Kram, das ist alles Lug und Trug.“
„Werner, ich komme gerade aus dem Stall. Es gibt ab jetzt keine Eier mehr. Das Huhn ist tot.“

 

Fortsetzung zu „Ein schwarzer Tag“: Birdie

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